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„Ich wollte auf Augenhöhe für und mit Kindern erzählen“ 

Im Mai gewann Soleen Yusef mit „Sieger sein” den deutschen Filmpreis. Die ehemalige Deutschlandstipendiatin brachte im Film ihre Geschichte ein – als 9-jährige floh die gebürtige Kurdin mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Weg führte sie an die Filmakademie Baden-Württemberg. Ein Gespräch über ihre Geschichte und ihren Ansporn.

Im Mai gewann Soleen Yusef mit „Sieger sein” den deutschen Filmpreis. Die ehemalige Deutschlandstipendiatin brachte im Film ihre Geschichte ein – als 9-jährige floh die gebürtige Kurdin mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Weg führte sie an die Filmakademie Baden-Württemberg. Ein Gespräch über ihre Geschichte und ihren Ansporn.

Sie wurden 2012/13 mit dem Deutschlandstipendium gefördert. Erinnern Sie sich noch, wie Sie damals davon erfahren haben? 

Ich habe den Aufruf zur Bewerbung an der Pinnwand der Filmakademie gesehen. Das Stipendium war meine Rettung. Ich habe immer neben dem Studium gearbeitet, weil das BAföG vorne und hinten nicht reichte. Im dritten Jahr wurde das Studium immer schwerer, der Arbeitsaufwand war größer und die Projekte wurden komplexer. Das Stipendium hat mir ermöglicht, dass ich mit den monatlichen 300 Euro weniger arbeiten musste und mich voll auf das Studium konzentrieren konnte. Das war schon eine krasse Entlastung. Ich hatte bis dahin nicht das Privileg, dass mich jemand finanziell stützt. Deshalb bin ich der Wüstenrot Stiftung, die mein Stipendium als privater Fördernder mit 150 Euro im Monat mitfinanziert hat, sehr dankbar.

Haben Sie einen Tipp an Studierende, die überlegen, sich für das Deutschlandstipendium zu bewerben? 

Ich würde ihnen raten, sich mit den eigenen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Das ist das Schöne an einem Land, das Bildung finanziell fördert: Es gibt Möglichkeiten der Unterstützung. Auch wenn es mühselig ist, sich mit den Unterlagen und Fördermöglichkeiten zu beschäftigen – es lohnt sich. Gerade im kreativen Bereich bekommt man oft gesagt, das sei brotlose Kunst. Davon sollte sich niemand entmutigen lassen. Wichtig ist, das Engagement aufzubringen, das Ziel vor Augen zu haben, und sich gleichzeitig die Zeit zu nehmen, sich während des Studiums auf sich selbst zu konzentrieren. Diese Zeit ist so prägend und ich wünschte, ich hätte sie mehr genossen. Wir sollten das Privileg, diese Form der Bildung zu bekommen, wertschätzen und Möglichkeiten der Förderung nutzen.

Im Mai haben Sie mit „Sieger sein“ den Deutschen Filmpreis in der Kategorie „bester Kinderfilm“ gewonnen. Sie haben das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Wovon handelt der Film? 

Es geht um die 11-jährige Mona, die mit ihrer kurdischen Familie vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland flüchtet. Sie landet auf einer ziemlich chaotischen Schule in Berlin Wedding und muss versuchen, irgendwie dort anzukommen. Das ist eine riesige Berg- und Talfahrt, weil es ihr nicht leicht gemacht wird, akzeptiert zu werden. Mona ist anders, spricht anders und sieht anders aus. Dann holt einer ihrer Lehrer sie in die Mädchen-Fußballmannschaft. Der Lehrer, der auch gleichzeitig der Trainer ist, eröffnet ihr eine Welt, in der sie sich zu Hause fühlt.

Wie viel von Ihrer eigenen Geschichte steckt in „Sieger sein“? 

Der Film ist eine Hommage an meinen ehemaligen Lehrer. Natürlich ist sie fiktionalisiert, überhöht und ins Heute übersetzt. Aber im Grunde erzählt der Film die Geschichte von meinem Lehrer und mir. Durch ihn bin ich erst richtig in Berlin angekommen. Er wusste, wie er mit den Kids umgehen muss. Und er hatte eine enge Bindung zu den Eltern, war häufiger mal auf einen Tee zuhause eingeladen und hat die Väter und Mütter überzeugt, dass ihre Töchter – in den 1990er Jahren war das noch ein bisschen anders – Fußball spielen können. Ich habe ihn vor ein paar Jahren ganz zufällig bei einem Benefizkonzert in Berlin Kreuzberg getroffen. Er hatte sich damals, nach über 20 Jahren, überhaupt nicht verändert. Er sah immer noch jung aus, trug immer noch dieselbe Lederweste. Und dann haben wir uns den ganzen Abend unterhalten. Anfang 2017 sprudelte die Geschichte dann nur so aus mir heraus. Ich habe für mich aufgeschrieben, wie ich mich mit 10, 11 Jahren gefühlt habe. Und mit diesem Text bin ich dann mit meinem Agenten auf die Suche nach einer Produktionsfirma gegangen.

Sie sind selbst mit neun Jahren mit Ihrer Familie nach Deutschland geflohen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? 

Mein erstes Ankommen in Deutschland war total schön. Die ersten Monate waren wir in Ostrhauderfehn bei Leer, also Ostfriesland. Dort gab es eine ganz tolle, solidarische Willkommenskultur. Wir waren jeden Tag mit den Kids aus der Straße Fußballspielen, trotz unserer Sprachbarrieren. Dann sind wir weitergeschickt worden, weil es nur die erste Aufnahmestelle war, und nach Wolfsburg gekommen. Wolfsburg war für mich ganz furchtbar, da bin ich überhaupt nicht angekommen und es gab viel Ausgrenzung in der Schule. Anschließend sind wir nach Berlin gegangen, weil meine Mutter dort ihre Schwester hatte und mein Vater alte Freunde. Also sind wir in unserer ersten eigenen Wohnung in Wedding gelandet, wo ich mit meinem Bruder auch richtig eingeschult worden bin. Und da war mir klar, hier muss ich ankommen. 

Was bewegt Sie dazu, das Thema Migration filmisch aufzugreifen?  

Mich bewegen vor allem Kinder, die vor Krieg flüchten. Ich habe mich immer gefragt: Wie kann es möglich sein, dass Kinder einen Krieg erleben können, für sie aber nie darüber erzählt wird? Dass sie diese horrenden Erfahrungen im Körper speichern und sich ihr ganzes Leben durch ihre Traumata kämpfen müssen? Ich wollte auf Augenhöhe für und mit Kindern erzählen. Von Kriegserfahrung und Flucht, aber vor allem vom neuen Leben nach der Flucht. Als junges Kind hätte ich mir sehr gewünscht, dass auch solche Filme existieren, und dass Menschen mit Migrationsgeschichte vielfältiger und nicht so negativ porträtiert werden. Also habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, das selbst zu tun. Ich will Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte auf der Leinwand mehr Sichtbarkeit verschaffen.

Was ist Ihnen beim Erzählen dieser Geschichten wichtig? 

Ich versuche mit meinen Filmgeschichten, Menschen mit Migrationshintergrund komplexer und mit Biografie zu erzählen, und weg zu kommen von stereotypen Darstellungen und diesem Stempel, den man aufgedrückt bekommt. Aber die Flucht ist trotzdem ein Teil der Identität: Wir sind geflüchtet, wir sind emigriert in ein anderes Land. Wir sind aber auch viel mehr. Ich finde es traurig, dass uns als marginalisierte migrantische Gruppe Komplexität nicht zugestanden wird. Wir müssen immer herhalten, als homogene Masse, als Feindbild, je nach politischer Strömung. Dadurch werden das Menschliche, das Individuelle und die verschiedenen Biografien ausgemerzt. Ich bin seit fast 30 Jahren in Deutschland. Ich bin also Teil der Geschichte Deutschlands geworden.  

Stand: August 2024